Interview mit Ingmar Bergman 1976

(kurz nach seiner Emigration aus Schweden, wo er wegen des Verdachtes der Steuerhinterziehung während einer Probe im Stockholmer "Dramaten" von der Polizei abgeführt worden war, einen Nervenzusammenbruch erlitten und einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Obwohl das Gerichtsverfahren aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen wurde, verließ Bergman Schweden und wohnte eine Zeitlang in München, wo er den Film "Schlangenei" drehte und am Residenztheater inszenierte.)



Werden Sie jetzt in Deutschland bleiben?

INGMAR BERGMAN: Also, das war zuerst nicht meine Absicht, denn ich war in Paris. Es war meine erste Idee, in Paris zu bleiben, aber dann kam ich hierher nach München, und hier ist es wirklich sehr schön. Ich bin noch nie in München gewesen. Sie haben es hier sehr schön. Die Landschaft ist schön, und die kulturelle Atmosphäre ist auch sehr günstig.

Hatten Sie Vorurteile, die sich geändert haben?

BERGMAN: Nein, ich war nur auf Paris eingestellt. Ich kannte ja München noch nicht. Ich war vorher nur in Hamburg gewesen, und ich finde auch Hamburg eine sehr schöne Stadt.

Was ist Ihr Eindruck von den Menschen in Deutschland?

BERGMAN: Also, die Menschen  hier waren sehr liebenswürdig. Ich habe so eine Generosität und Großzügigkeit noch nirgends erlebt, und die kulturelle Aktivität hier hat mich wirklich beeindruckt. Musik und Schauspiel sind ja auf einem sehr hohen Standard.

Sie werden auch hier inszenieren?

BERGMAN: Ja, "Traumspiel" von Strindberg.

Sie haben einmal gesagt, daß Strindberg Sie zugleich anzieht und abstößt.

BERGMAN: Ja, das ist so: Er ist - wie sagt man? - mein Begleiter durchs Leben, mein Lebensbegleiter , kann man so sagen? Und ich bin nie gleichgültig ihm gegenüber. Ich habe Strindberg sehr lieb. Da ist ja vieles drin. Aber er ist doch immer mein Freund. Ich kann nicht über meinen Freund etwas Böses sagen. Ich weiß ja die Fehler, aber ich will über diese Fehler nicht sprechen ... Nein, es sind ja nicht Fehler. Also, er ist wunderbar. Er ist phantastisch. Er ist wie eine Naturkraft. Man kann natürlich sagen, in der Neunten von Beethoven dieser Marsch, dieses Scherzo, was ist das für ein Blödsinn! Sie wissen doch, wie die Leute reden. Aber Beethoven ist doch Beethoven. Und Strindberg ist Strindberg. Also, das sind Naturkräfte wie Ibsen oder wie Shakespeare, und es ist wunderbar, mit so einer Naturkraft ein ganzes Leben lang arbeiten zu können. Man findet immer was Neues.

Ist es nicht riskant für Sie, jetzt mit Schauspielern arbeiten zu müssen, die Sie nicht kennen?

BERGMAN: Also, es ist ja nicht so, daß ich immer mit denselben Schauspielern gearbeitet habe, das ist ein kleines Mißverständnis. Natürlich ist es schön. Aber wir sind ja überall auf der Welt dieselbe Familie, wir haben dieselben Probleme, die uns begegnen, wir sprechen dieselbe Sprache. Im Film ist es so, da habe ich bisher hinter der Kamera immer dieselben Mitarbeiter gehabt, und das ist natürlich jetzt eine große Schwierigkeit für mich, andere Mitarbeiter kennenzulernen, und daß die mich kennenlernen und so. Aber ich glaube, das geht schon. Ich habe hier sehr viele gute, internationale Leute getroffen.

Werden Sie Ihren Kameramann auch nicht mehr haben? »

BERGMAN: Doch, Sven Nykvist, den habe ich schon, das ist doch meine rechte Hand, auch meine linke Hand.

Können Sie jetzt, nach zwei Monaten, schon beurteilen, wie gut Sie die Trennung von Schweden verkraftet haben?

BERGMAN: Wie meinen Sie?

Können Sie beurteilen, ob Sie gut damit fertig werden?

BERGMAN: Es war ja notwendig.

Ja, aber können Sie schon sagen, ob es funktioniert?

BERGMAN: Also, das funktioniert sehr gut. Natürlich gab es da Schwierigkeiten. Ich bin ja kein Freund des Reisens. Reisen und Hotels habe ich nicht sehr gern. Natürlich habe ich also Schwierigkeiten gehabt. Aber die Schwierigkeiten waren nicht so groß, wie ich erwartet hatte, und das mit München, das kam ja ganz unerwartet. Das ist für mich ein sehr schönes Erlebnis.

Sie haben sehr viel zurückgelassen...

BERGMAN: Alles.

Wovon leben Sie jetzt?

BERGMAN: Wenn man zu einem Film die Vorbereitungen macht, dann hat man ja so ein Diätenpauschale. Davon lebe ich also, und dann hab' ich ja schon das Drehbuch geschrieben und gut verkauft. Ich glaube, meine finanzielle Situation ist nicht hoffnungslos.

Was geschieht mit Ihrem Vermögen in Schweden?

BERGMAN: Da ist ein Verwalter da. Das ist jetzt verwaltet von Freunden, die auch Geschäftsleute sind. Das steht den Steuerbeamten dort zur Verfügung.

Sie haben einmal gesagt, Ihre künstlerische Freiheit hänge auch damit zusammen, daß Sie, wenn Sie nicht arbeiten, vom schwedischen Staat eine Art Künstlerrente beziehen. Die fällt jetzt weg. Sind Sie dadurch unfrei geworden?

BERGMAN: Nein, also dieses Künstlergehalt ist nur symbolisch, glaub' ich, das kommt nicht in Frage, auch später nicht, hoffentlich. Wissen Sie, diese Freiheit, das machen zu können, was ich will, die habe ich immer. Denn das Filmemachen ist nur mein Hobby. Mein Be­ruf ist Theaterregisseur, und in diesem Beruf werde ich, glaube ich, die nächsten zehn Jahre in Deutschland arbeiten können. Das ist kein Problem.

In Ihrem Leben spielt der Begriff »Demütigung« eine wichtige Rolle. Sie sagten einmal, daß man auf Demütigung mit Gegendemütigung reagiere.

BERGMAN: Ja, also die Demütigung, plötzlich abgeführt und eingesperrt zu werden, war für mich furchtbar, das ist klar. Das war unwahrscheinlich, daran will ich gar nicht mehr denken.

War Ihre Emigration ein Reagieren darauf im Sinne einer Vergeltung?

BERGMAN: Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich will über diese Dinge nicht gerne sprechen. Das ist zu kompliziert. Wissen Sie, das ist ja so: Wir alle haben schwere negative Erfahrungen. Kann man diese negativen Erfahrungen in etwas Positives verwandeln, dann ist es schön, und ich glaube, langsam, ganz langsam, hat diese Verwandlung jetzt angefangen. Die Verhaftung, das war doch eine enorme Erfahrung, eine phantastische Erfahrung, das hat ja mein ganzes Leben verwandelt, und das kann auch gut sein, wenn man achtundfünfzig Jahre alt ist und ganz ruhig da­sitzt und glaubt, jetzt ist das Leben ganz klar, jetzt weiß man ganz genau, was geschehen wird bis zum Todesaugenblick. Heute weiß ich überhaupt nichts, und das ist, finde ich, sehr schön. Plötzlich ist es ein Stimulans, nichts zu wissen. Vorher, vor dieser Verhaftung, wußte ich ja für zwei Jahre im voraus, was zu tun war. Die Pläne waren ganz klar, Inszenierungen, Filme, alles war reguliert und schön, ich war so geborgen.

Und da sind Sie ein bißchen bequem geworden?

BERGMAN: Nein, das wird man nicht. Das ist unmöglich. Aber trotzdem ist diese neue Situation jetzt nicht schlecht. In gewissen Momenten mußten wir ja von Tag zu Tag improvisieren. Das war eine gute Erfahrung.

Wo ist Ihre Frau jetzt?

BERGMAN: Ja, also... (Gelächter statt einer Antwort)

Arbeitet sie auch?

BERGMAN: Meine Frau ist meine Sekretärin. Wir arbeiten ja immer zusammen. Sie hat mich phantastisch unterstützt in dieser Zeit. Ohne sie wäre es ganz unmöglich gewesen.

Hat Ministerpräsident Palme versucht, Sie zurückzuholen?

BERGMAN: Nein, also das sind nur - wie sagt man? - Gerüchte.

Hat er Sie nicht angerufen?

BERGMAN: Nein.

Bezeichnen Sie sich immer noch als Sozialdemokrat?

BERGMAN: Ja.

Andererseits sagen Sie auch, ein Künstler muß Anarchist sein.

BERGMAN: Ja, man kann ja nicht nur ein anarchistischer Sozialdemokrat, sondern auch ein sozialdemokratischer Anarchist sein ... Ich glaube, gäbe es eine Partei für bewußt erschrockene Menschen, würde ich dort sofort Mitglied werden.

Aber die gibt es nicht.

BERGMAN: Nein, die gibt es nicht.

Warum sind Sie dann überhaupt Mitglied einer Partei?

BERGMAN: Also, ich möchte sagen, meine Haltung zur schwedischen Sozialdemokratie hat sich vielleicht ein bißchen geändert. Am 19. September haben wir Wahlen. Vorher werde ich eine Entscheidung treffen. Wir haben in Schweden - wie sagt man? - ein Wahlgeheimnis. Ich weiß nicht, wie es ist hier in Deutschland. Haben Sie das hier auch?

Ja, natürlich.

BERGMAN: Also ist es nicht nötig, seine Parteizugehörigkeit zu deklarieren, und ich werde auch meine Entscheidung nicht deklarieren.

Aber könnten Sie, um Mißverständnisse auszuschließen, nicht doch erläutern, was Sie unter »anarchistisch« verstehen?

BERGMAN: Das hat natürlich nichts mit politischem Anarchismus zu tun. Ich werde bestimmt keinen Präsidenten erschießen. Ich meine nur, daß ein Künstler immer alles in Frage stellt, die Wirklichkeit, sich selbst, die Umgebung, die politische Situation, und er muß das jeden Tag tun, über alles fragen, nicht zweifeln, aber fragen, und das nennt man doch anarchistisch.

Bedeutet das auch, daß er sich mit seiner Einsamkeit abfinden muß?

BERGMAN: Ich kann nur für mich selber sprechen. Mein ganzes Leben als Künstler ist ein Versuch, in Kontakt zu anderen Menschen zu kommen, also diese Einsamkeit zu verlassen.

Warum akzeptieren Sie sie nicht einfach?

BERGMAN: Meine Einsamkeit? Ich glaube, die akzeptiert niemand, niemand in der Welt.

Wenn einem aber nichts anderes übrig bleibt?

BERGMAN: Also wissen Sie, ich glaube, jetzt wird es ein bißchen schwierig, glauben Sie nicht? Gott im Himmel, jedes Kind ab vier Jahren weiß doch, daß es diese menschliche Isolierung, diese Einsamkeit gibt, und jedes menschliche Wesen strebt danach, sie zu verlassen und etwas zu finden, um da herauszukommen, glauben Sie nicht? Das gehört doch zu unserem Leben dazu wie Hunger und Durst. Das ist ein Bedürfnis.

Eine der schwärzesten Äußerungen, die ich von Ihnen gelesen habe, ist die, daß Sie glauben, der Weltuntergang stehe bevor. Vertreten Sie diesen Pessimismus noch heute oder war das nur ein dunkler Moment in Ihrem Leben?

BERGMAN: Nein. Aber ich bin ja nicht nur ein künstlerischer Anarchist und ein sozialdemokratischer Anarchist und ein anarchistischer Sozialdemokrat, ich bin auch ein pessimistischer Optimist und ein optimistischer Pessimist, wie Sie wollen. Ich versuche ja, mit meinen Filmen und meinen Inszenierungen, wenigstens in mikroskopischen Graden die Welt besser zu machen, verstehen Sie, ganz mikroskopisch. Danach strebe ich mein ganzes Leben, und das mache ich nur aus egoistischen Gründen, das ist eingebaut in meine... wie sagt man? In meine Maschine.

Meinen Sie den Egoismus, überleben zu wollen?

BERGMAN: Aber nein, sondern das ist einfach ein Teil unseres Wesens. Ich bin Regisseur, Sie sind Journalist. Warum sind Sie Journalist?

Das kann ich jetzt nicht...

BERGMAN: Warum denn nicht?

Ich habe zu diesem Beruf ein ziemlich gestörtes Verhältnis.

BERGMAN: Ja, warum denn?

Weil das, was wir hier machen, doch sehr einseitig ist, und weil das immer so ist, weil es ein Fragen und Antworten ist und eigentlich kein Kontakt. Ich fühle mich da nicht wohl. Aber das unterbricht jetzt unser Interview in einer Weise...

BERGMAN: Also, Sie haben zu Ihrem Beruf ein ambivalentes Verhältnis?

Ja, ich würde manchmal, anstatt zu fragen, lieber über mich et­was sagen.

BERGMAN: Ach so, ja, etwas Persönliches? Sie wollen kreativ sein? Dann sind wir ja nicht so weit weg voneinander. Sehr schön. Das finde ich sehr schön. Dann haben Sie ja die Antwort, warum ich sage, daß ich schaffe und Kontakt suche und versuche, die Welt ein bißchen besser zu machen. Ich will meine Erfahrungen anderen Menschen über ... wie heißt das? Reichen?

Vermitteln.

BERGMAN:  Ja, vermitteln. Ich glaube, das wollen Sie auch. Das ist ganz natürlich.

Denken Sie an diese Menschen, während Sie schaffen?

BERGMAN: Nein. Aber wenn Sie mich fragen, muß ich ja eine Rationalisierung von diesem an sich ganz natürlichen Schaffen versuchen, dann muß ich nachdenken, um mit der Vernunft eine Erklärung zu finden.

Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen, was diesen Egoismus betrifft, von dem Sie sprechen, den Egoismus des Schaffens?

BERGMAN: Ein schlechtes Gewissen darf man nicht haben. Ein Tiger hat auch kein schlechtes Gewissen, wenn er ein schönes Tier frißt. Ich glaube, ein Künstler darf kein schlechtes Gewissen haben. Er muß seine Tiere fressen. Das gehört dazu. Wir müssen die besten Konditionen haben für unser Schaffen, da soll man kein schlechtes Gewissen haben.

Keine Skrupel?

BERGMAN: Nein, überhaupt nicht. Sonst geht es nicht. Natürlich ist es zu­erst das Wichtigste, sich die Freiheit zu schaffen, das tun zu können, was man tun will.

Wie ist das bei Ihnen verlaufen?

BERGMAN: Am Anfang hatte ich überhaupt keine Freiheit, nicht im Film und nicht im Theater. Aber heute bin ich hundertprozentig frei. Ich kann machen, was ich will.

Und sind jetzt glücklich?

BERGMAN: Ich bin nicht glücklich. Aber ich fühle mich wohl. Wissen Sie, ich bin wie ein Fisch, und ich habe mein Aquarium. Dieses Aquarium hat seine Grenzen, aber diese Grenzen lehne ich ab. Die sind für mich nur symbolisch. Natürlich bin ich wie alle Menschen durch die Dinge ringsum und in mir begrenzt. Aber ich habe mein Aquarium, und das hab' ich sehr gern, und ich lade Sie ein, mich darin zu besuchen.

Einen Gott haben Sie da nicht nötig?

BERGMAN: Nein.

Auch nicht in der Not?

BERGMAN: Nein, hab' ich nicht, weil ich glaube, wir haben was Göttliches oder was Heiliges in uns, also im Menschen. Im Menschen ist was Heiliges drin, etwas Phantastisches, Unerhörtes. Aber draußen ist kein Gott. Wissen Sie, ich bin ja der Sohn eines Pfarrers, und natürlich habe ich mich mit diesen Problemen sehr viel beschäftigt, und eines Tages, vor fünfzehn Jahren, hatte ich so ein Abszeß an der Hüfte, und dann wurde ich operiert, und die Schwester kam und sagte, fangen Sie bitte an zu rechnen, Herr Bergman, und dann hat man mich gestochen mit einer Spritze, und dann hab' ich bis zwei gerechnet, und dann... Nach einer Sekunde war ich schon wieder wach und habe gefragt: Wann werden Sie also jetzt anfangen mit dieser Operation? Da haben die gelacht und gesagt, Herr Bergman, Sie haben ja schon sechs Stunden geschlafen, die Operation ist vorüber und alles in Ordnung. Also diese Sekunde, diese sechs Stunden waren ein phantastisches Erlebnis für mich, denn ich bin dadurch zu der Überzeugung gekommen, man lebt, man wird eingeschaltet, und dann plötzlich eines Tages ist man ausgeschaltet, das ist eine Existenz und dann eine Non-Existenz, und während dieser phantastischen Zeit von der Geburt bis zum Tod ist alles drin, das Grausame, das Schöne, das Ungeheure, Unwahrscheinliche, Scheußliche, alles ist da, und das finde ich fabelhaft. Für mich ist das genug. Als ich begriff, daß kein Gott da oben ist oder draußen, und mich niemand beobachtet, das war sehr schön. Da fühlte ich plötzlich eine Geborgenheit. Ich hatte ja vorher immer Angst gehabt vor diesem Herrn da oben.

Eine Geborgenheit in sich selbst?

BERGMAN: Ja, das ist wirklich ein sehr schönes Gefühl. Hier ist das Leben, und wenn das Leben zu Ende ist, dann ist nichts mehr...

Dann sind Ihre Filme.

BERGMAN: Also, Gott im Himmel, das finde ich einen Unsinn. Früher hat man die Filme ja aus Nitrat hergestellt, und die haben sich aufgelöst nach zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren und existieren nicht mehr. Das fand ich schön. Heute existieren diese Filme bis zum Ende der Welt, und das finde ich nicht gut. Am Theater ist es besser. Man macht eine Inszenierung, man ist zusammen, probiert zehn Wochen, es wird gespielt, und dann: Vorüber.

Ihr nächster Film spielt in Deutschland, im Jahr 1923, kurz bevor Hitler putschte...

BERGMAN: Ja.

Kommen darin auch persönliche Erfahrungen vor?

BERGMAN: Ja.

Welche?

BERGMAN: Ich weiß nicht. Das kann man nicht wissen. Das wäre also wirklich dumm, darüber etwas zu sagen. Wenn ich jetzt anfinge, darüber zu denken, dann würde ich den Film nicht mehr drehen.

Aber das Drehbuch ist doch schon fertig?

BERGMAN: Jaja, das war schon am 7. Januar fertig. Aber ich will darüber nicht denken.

Es ist, glaube ich, Ihr erster Film mit einem politischem Thema?

BERGMAN: Ja, also wenn wir jetzt schon darüber reden, wir sind ja jetzt wahnsinnig tiefsinnig geworden, dann erzähle ich Ihnen noch eine andere Idee, die ich habe. Bei meiner Operation war es ja so: Der Anfang der Narkose war zugleich schon das Ende. Diese Sekunden und Minuten und Stunden dazwischen, die haben ja wir erfunden. Die Zeit existiert ja nicht. Das ist ja eine Erfindung des Menschen. Ich glaube, daß in Wirklichkeit alles ein großes Jetzt, ein enormes Jetzt ist und daß die Schatten des Kommenden - wie sagt man? - die Schatten der Zukunft schon immer da sind. Ich habe vielleicht ein Gefühl von dem, was kommen wird, und das zeigt der Film.

Aber am Beispiel von etwas, das schon passiert ist?

BERGMAN: Ja, weil man ja nicht weiß, in welchem Milieu und welcher Atmosphäre sich das Zukünftige abspielen wird. Ich könnte natürlich fünfzehn oder zwanzig Ursachen finden, warum ich gerade dieses Milieu und dieses Geschehen ausgesucht habe, aber das finde ich dumm.

Sie waren damals ein kleiner Junge?

BERGMAN: Ja, fünf Jahre alt. Aber das spielt keine Rolle. Ich weiß nur, daß ich diese Zeit kenne. Warum kenne ich das Mittelalter, das drei­zehnte Jahrhundert? Da hab' ich überhaupt nicht gelebt, aber da fühle ich mich sehr gut zu Hause. Auch am Ende des achtzehnten  Jahrhunderts. Als ich zum Beispiel die "Zauberflöte" gemacht habe, die wurde 1791 komponiert, habe ich das Gefühl gehabt, als hätte ich fast mit Mozart gesprochen.

Da war ja auch die Musik da.

BERGMAN: Ja, natürlich.

Haben Sie etwas Vergleichbares aus der Zeit, in der Ihr Film spielt?

BERGMAN: Das weiß ich nicht ... Wir können darüber reden, wenn der Film fertig ist und weg ist, dann weiß ich es besser.

Können Sie erzählen, was vorgeht?

BERGMAN: Im Film?

Ja.

BERGMAN: Also darüber will ich doch gerade nicht sprechen. Das wäre doch dumm, das zu erzählen.

Spielt er in München?

BERGMAN: Nein, überhaupt nicht. Es spielt in Berlin, in einer bestimmten Woche. Es beginnt an einem Sonntag und endet an einem Montag oder Dienstag oder so ähnlich.

Zeigen Sie die politischen Vorgänge von damals?

BERGMAN: Nein, darüber wird nur gesprochen.

Hitler kommt nicht vor?

BERGMAN: Nein. Alles ist nur eine Spiegelung des großen Geschehens, ei­ner großen, verheerenden Katastrophe.

Der Selbstvernichtung des Menschen?

BERGMAN: Ja.

Halten Sie den Menschen für an sich destruktiv...?

BERGMAN: Ja.

Oder ist er erst durch bestimmte Verhältnisse dazu geworden?

BERGMAN: Nein.

Aber das ist doch schrecklich?

BERGMAN: Ich glaube, darüber ist es sehr schwierig zu sprechen. Da ist irgendwann etwas geschehen in der Entwicklung des Menschen.«

Er war also nicht immer so?

BERGMAN: Doch, doch. Ich meine, als der Mensch noch herumlief als kleiner Affe, da war es noch schön. Aber dann fing plötzlich das Gehirn an zu wachsen, und zwar krebsartig zu wachsen, also ganz schnell, diese Mutation war unwahrscheinlich schnell, und da ist was geschehen, glaub ich, ich weiß nicht, ich stell mir das vor. Denn wäre ich ein Insekt, das aus dem Weltraum kommt, ein denkendes Insekt, ganz praktisch eingerichtet, das den Menschen studiert, dann müßte ich doch sagen, diese Menschen sind wahnsinnig. Sieht man das alles von außen, neutral, dann muß man doch denken, die Menschen sind vollkommen verrückt, denn sie sind ja ganz unpraktisch, sie machen doch alles ganz dumm und ganz falsch, und sie machen es für sich unbequem, sie zerstören alles und ermorden einander ganz grundlos, ohne Ursache, ohne Motiv. Das ist doch ein Fehler in der Maschine, und dieser Fehler ist etwas Grausames, etwas Furchtbares.

Woher nehmen Sie da noch die Kraft, Ihre Filme zu machen?

BERGMAN: Das weiß man ja nicht. Das ist das, was ich das Heilige nene im Menschen. Ich habe kein anderes Wort dafür. Sie würden vielleicht "Gott" dazu sagen. Woher sonst kommen die letzten Streichquartette von Beethoven oder die Takte in der "Zauberflöte", wenn Tamino fragt ""Lebt Pamina noch?" oder Bartoks letztes Klavierkonzert?

Und wo ist dieses »Heilige« bei denen, die nur zerstören?

BERGMAN: Da ist die Katastrophe da. Das ist furchtbar.

Haben die das nicht?

BERGMAN: Doch, doch, die haben das auch, aber die wissen es nicht, und andere sind sehr interessiert daran, daß sie's nicht wissen

Also sind doch die Verhältnisse schuld?

BERGMAN: Natürlich, aber die Verhältnisse sind ja auch von den Menschen geschaffen, und einige Menschen sind mehr verantwortlich für die Verhältnisse, andere weniger. Das ist ja immer so. Da sind die Opfer und die Henker.

Ist die Zerstörungslust des Menschen heute größer als früher?

BERGMAN: Nein, das will ich nicht sagen. Ich glaube, hier in Deutschland gibt es doch eine junge Generation, die deutlicher als andere Generationen gesehen hat, wie furchtbar falsch alles gemacht worden ist, und diese Jungen werden versuchen, es besser zu machen. Das ist meine Hoffnung. Ich bin ja doch ein furchtbarer Optimist.

Haben Sie auch Ihre eigene Destruktivität schon erforscht?

BERGMAN: Wissen Sie, wenn man jung ist, hat man ja so viel Angst, und dann wird man so unglücklich und so intolerant. Man fürchtet so viele Dinge, und dann wird man so böse.

Und im Alter? Sie haben das Heilige in sich gefunden, aber ein Heiliger sind Sie doch deshalb noch nicht geworden?

BERGMAN: Nein, Gott im Himmel, nein!

Wie werden Sie denn fertig mit dem Bösen in Ihnen?

BERGMAN: Ich glaube, man muß es erkennen, und man muß es auch akzeptieren. Erkennt man es und akzeptiert man es und sieht man dem Bösen ins Auge und ist damit ein bißchen... ich will nicht sagen befreundet, aber bekannt, dann kann man dagegen kämpfen. Die meisten Menschen sind ja nicht bereit, die Aggressivität, das Böse und Grausame, das in ihnen steckt, zu erkennen. Die lehnen das ab. Ich glaube, man muß sich damit bekannt machen, und wenn es dann kommt, dann sagt man, also paß auf,  jetzt machen wir aus dir etwas Schönes. Man muß das natürlich disziplinieren, man muß einen Ausweg finden. Aber wenn man es von vornherein ablehnt, dann verwandelt es sich in Dämonen, und die Dämonen haben keine Gesichter. Deshalb sind so furchtbar. Diese Menschen, die das eigene Böse nicht kennen, sind dann auch nicht gewappnet gegen das Böse von außen.

Gegen so jemanden wie Hitler zum Beispiel?

BERGMAN: Ja, natürlich.

Glauben Sie, daß Hitler heute noch eine Chance hätte?

BERGMAN: Nicht Hitler. So jemand müßte heute ganz anders sein, viel mehr sophisticated, viel gefährlicher und raffinierter. Das wird nicht nur ein einziger Mann sein, sondern der Ausbruch eines hundertprozentigen politischen Bürokratismus. Dieser Zynismus der politischen Bürokratie ist ja schon da und kann wie eine Epidemie plötzlich zum Ausbruch kommen, und deshalb muß man dagegen etwas unternehmen.

Als einzelner?

BERGMAN: Man kann ja eine Warnglocke sein, die in irgendeiner Ecke brrrr macht.

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Erschienen stark verkürzt im Juni 1976 in der Münchner "Abendzeitung"